Kirschpfanne und Demenz
Was hat eine Kirschpfanne mit Demenz zu tun? Eigentlich nichts.
Ich war für einen Vortrag über das Thema Demenz auf der Suche nach einer Möglichkeit, die Plastizität des Gehirns zu erklären. Neuroplastizität beschreibt unsere Fähigkeit, die Zellarchitektur so zu verändern, dass neu gelernte Fähigkeiten oder gerade erworbenes Wissen gespeichert und später wieder abgerufen werden kann. Die Nervenzellen im Gehirn bilden also neue Verknüpfungen, durch die neu erlernte Inhalte gespeichert und verarbeitet werden können.
Die Kirschpfanne meiner Oma.
Der Vortrag über das Thema Demenz, den ich bei einem ambulanten Pflegedienst hielt, hatte einige sehr theoretische Elemente. Mir war von Anfang an klar, dass die Theorie auf wenig Gegenliebe treffen würde - was ja völlig normal ist. Da ich annehmen konnte, dass zu meinem Vortrag überwiegend Frauen kommen werden, war ich auf der Suche nach einem Thema, das die Theorie mit Leben erfühlt.
Da kam mir die Kirschpfanne meiner Oma in den Sinn, an die ich seit ewigen Zeiten nicht mehr gedacht hatte, die ich vor mehr als 30 Jahren das letzte Mal gegessen hatte, aber an deren überaus leckeren Geschmack ich mich gleich wieder erinnerte.
Die Kirschpfanne ist ein eher regionales Gericht, das also nicht so bekannt ist und sich aus diesem Grund hervorragend für meinen Vortrag eignete. Nach der Theorie, einige waren schon etwas in sich gekehrt, kam das Wort "Kirschpfanne". Sofort war alle Aufmerksamkeit auf dieses eine Wort gerichtet. "Kirschen kann man doch nicht braten, wie soll das schmecken", war die erste Antwort aus dem Publikum. Daraufhin legte ich die Seite mit dem Rezept auf. Ich konnte förmlichst sehen, wie sich die Gehirne der TeilnehmerInnen neu verdrahteten. Das alte Wissen um die Zubereitung einer süßen Eierspeise wurde mit dem neuen Inhalt Kirsche verknüpft. Die Köpfe gingen zusammen, eine rege Diskussion begann und ich mit meinem Thema war nicht mehr wichtig. Nach einigen Minuten konnten sich alle TeilnehmerInnen vorstellen, wie eine Kirschpfanne schmecken wird, obwohl sie noch keine gegessen hatten. Genau das ist neuronale Plastizität.
Nach diesem kleinen Ausflug in die Thüringer Spezialitätenküche war das Thema Plastizität präsent. Nun war es ein leichtes, die Schwierigkeiten der Menschen mit einer Demenz zu verdeutlichen, da ich ja auf das gerade Erlebte zurückgreifen konnte.
Besonders interessant fand ich, dass ich den feinen Unterschied in der Biografie eines Menschen mit einer Demenz herausarbeiten konnte, welcher in seiner Jugend bereits die Kirschpfanne gegessen hatte und einem Menschen mit einer Demenz, der erst im Alter von dieser Möglichkeit Kirschen zuzubereiten erfahren hat.
Der Mensch mit einer Demenz, der in seiner Jugend diese wunderbare Nachspeise gegessen hat, wird sich lange daran erinnern können. Auch wenn er nicht mehr sprechen kann, wird ihm der Anblick der Kirschpfanne ein Lächeln ins Gesicht zaubern. Wie von selbst kommen die Erinnerungen an einen herrlichen Frühlingsnachmittag im Garten auf, an dem die Familie zusammen am Tisch sitzt und das Leben genießt.
Anders stellt sich die Sache bei einem erkrankten Menschen dar, der erst im Alter eine Kirschpfanne serviert bekommt. Besonders bei Alzheimer-Demenz sind relativ oft und früh die Geruchsnerven geschädigt, so dass Geruch und Geschmack nicht mehr so gut zur Erkennung von Speisen genutzt werden können. Sollten dann auch die Sehbahnen so weit in Mitleidenschaft gezogen sein, dass das Erkennen der Kirschpfanne erschwert wird, kann es zur Ablehnung kommen. Die Kirschpfanne wird dann als Essen nicht erkannt. Hier könnte noch ein "Übersüßen" der ersten Bissen helfen weil Süßes noch am bestem geschmeckt wird. Doch am nächsten Tag kann sich das Prozedere vom Vortag wiederholen, da die Plastizität des bereits geschädigten Gehirns nicht mehr gegeben ist, der Mensch mit einer Demenz wird sich auch an die schönen Dinge des letzten Tages nicht mehr erinnern können.
Diese Zusammenhänge lassen sich auf alle Lebensereignisse übertragen, in denen der biografische Werdegang eine Rolle spielt. Deshalb ist es so wichtig, die Biografie des erkrankten Menschen präsent zu haben, um daraus die positiven Lebenserinnerungen zu schöpfen, die dem Menschen mit einer Demenz ein Lächeln ins Gesicht zaubern.
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